Abraham David Christian
Skulptur, 1969
Erde
D. 18 cm
Abraham David Christian (geb. 1952)
Dreck unter den Fingernägeln des kleinsten Gottes
Stell Dich in irgendeiner Stadt der Welt an eine Ecke und warte. Die Welt wird zu Dir kommen.
Die Welt ist voller Möglichkeiten; Freiheit gibt es reichlich, aber Du musst Risiken eingehen, und die Risiken sind anders, als Du es vielleicht erwartest. Genau so wie die Freiheit. Das Warten, dieses aktive oder ungeduldige Warten oder Bereit-sein, die unvorhergesehenen Risiken, die nicht erahnbare Freiheit und die Welt, die zu Dir kommt, haben vielleicht nichts mit Deinen Erwartungen zu tun. Sie trotzen Deinem Willen, deiner Wahrnehmung von Freiheit und Abenteuer und dem, was Du vielleicht von der Welt erwartest.
Du stehst auf, duschst, trinkst einen Kaffee, rufst jemanden an. Du rauchst noch eine Zigarette und gehst die Canal Street entlang. Dann kommst Du zurück und arbeitest. Du lehnst Dich zurück, siehst Dir die Arbeit an und lässt sie los. Sie schafft ihre eigene Realität. Es ist so in Katmandu, Tokyo oder East New York.
Du bist nicht passiv, aber Deine Hände hinterlassen keine Spuren auf der Karriereleiter. Du bewegst Dich, reist, arbeitest, schaust; Du unternimmst Schritte, aber Du bist keine Maschine. Du bist frei. Du bist in der Welt wie ein Samen im Boden. Du bist einzigartig in der Welt. Dein Leben schafft seine eigene Realität.
Das Ein- und Ausatmen kannst Du nicht simulieren. Entweder bist Du in der Straße, oder die Straße ist in Dir. Du weißt, dass Du angekommen bist, wenn Du das Sperma und die Bleiche riechen kannst und sie voneinander nicht mehr zu unterscheiden sind. Dies ist meine Erinnerung an die 42nd Street und den Shinjuku Bahnhof, aber auch an Ankor Wat, wo du kalte Steine, Weihrauch und unschuldige Mädchen riechen kannst. Du fühlst Dich glücklich, aber unzufrieden, und machst deshalb weiter.
Es kann kein Leben im Tempel geben, wenn es kein Leben in den Etagenwohnungen von Tribeca oder den „white cubes“ von Chelsea gibt. Die Canal Street ist perfekt für eine Museumsausstellung, aber der weiße Kubus würde den Geruch der Straße töten. Es ist ein Unterschied, ob man in Laos ist oder gerade dort ankommt. In einer von Livingstons Afrika-Expeditionen blieben die Träger plötzlich stehen. Auf die Frage warum, antworteten sie, dass sie darauf warten, bis ihre Seelen sie einholen.
Die „white cubes“ mit ihren halbgebildeten Menschen, die Museumsdirektoren mit ihren Instituts-Empfindlichkeiten, die Kritiker mit ihren im Voraus bezahlten Seelen, die Händler ohne Augen, Ohren oder Verstand und die artigen Künstler, die tun, was man ihnen sagt, das ist die Welt der Anpassung. Du versuchst, dazu zu gehören, Teil von etwas zu werden, an einem bestimmten Ort anzukommen und einzutreten. Das ist die Welt des Donald Trump – die Welt der „richtigen Adresse“, und die dazugehörige Architektur hat wenig oder gar keine Bedeutung.
Bist Du jedoch ein Künstler, hast Du wahrscheinlich nichts aufgebaut, und in gewissem Sinne kann auch nichts erbaut werden. Wenn Du Glück hast, sind Du und Deine Arbeit einfach ein Samen im Boden, und Du bist ein Schritt in die falsche Richtung. Es gibt Anpassung und Anpassung. Wenn Du Glück hast, bist Du das geringste der Kinder des Teufels, Du bist der Dreck unter dem Fingernagel des kleinsten Gottes, die Scheiße, die das Nichts unter jedem Deiner Schritte festigt und fruchtbar macht. Wenn Du Dich anpassen willst, dann lass Deine Verleger und Lektoren Deine Bücher umschreiben; lass die Händler hier und da Deiner Arbeit ein wenig Farbe geben, und zieh in ein Apartment mit der richtigen Adresse. Du hast es nicht anders verdient.
Wenn Du aber in einer Welt ohne Adressen lebst und auf unbekannten Wegen gehst, auf denen noch niemand vor Dir war, und auf denen die Moral nicht von Stopp und Go Schildern bestimmt wird, kann es sein, dass Du niemals ankommst und Größe auf andere Weise definiert wird. Du magst scheitern, aber immer auf einer höheren Ebene. In dieser Welt gibt es keine Strategien, keine Lunches oder Dinners mit den richtigen Leuten, keine Regeln a priori. Deine Vorstellungskraft wird entweder fruchtbar durch die Erfahrung von Leben und Tod, der bebenden Erfahrung von Leben und Sterben, oder Du existierst neben dem Leben wie ein Schild an einer Straße.
Willst Du Dir Kunst anschauen, geh und kaufe Dir einen Stuhl. Stell ihn in respektvoller Distanz zur Arbeit und setzt Dich darauf. Die Arbeit, genau wie die Welt, kommt vielleicht zu Dir. Wenn nicht, kannst Du am nächsten Tag wiederkehren und noch einmal schauen. Kommt sie dennoch nicht, war sie nicht für Dich gedacht.
Kunst ist das Streben nach einem anständigen Leben. – Art is a quest for a decent life.
Abraham David Christian
publiziert in: New Observations, New York, Summer/Fall 1998